19. November 2007

DER BRENNENDE SCHATTEN ist erschienen und überall im Handel erhältlich (oder bestellbar). Das gut 100minütige Hörspiel erzählt die Vorgeschichte der Merle-Trilogie und wird vorerst mein letzter Ausflug in die Welt der Fließenden Königin bleiben. Nach der Sendung im Radio wurde oft gefragt, ob es eine Buchvorlage gebe oder die Geschichte einmal als Roman erscheinen werde. Nein - und nein. DER BRENNENDE SCHATTEN ist und bleibt ein Hörspiel, aufwendiger produziert als die meisten anderen, toll gespielt und von Regisseur Jörg Schlüter mit sehr viel Fingerspitzengefühl inszeniert.

Hier wie versprochen mein Text zur Entstehungsgeschichte, der auch im Booklet abgedruckt ist:

Der Einsame Berg und sein Schatten

Ich bin mit Hörspielen aufgewachsen, als Kind in den Siebziger Jahren, und ich gestehe, dass ich „Moby Dick“ nie gelesen, aber wahrscheinlich fünfzig Mal als Schallplatte gehört habe. In der 35-Minuten-Version. Was immerhin reicht, um zu wissen, dass der weiße Wal ein ziemlich großer Brocken und Captain Ahabs Tod eher unappetitlich war.
Ich komme gleich zum „Brennenden Schatten“, aber vorher noch ein zweiter Rückblick, circa 1981. Damals hatte ich Tolkien und seinen „Herrn der Ringe“ entdeckt. Mit zwölf hatte ich zwar von der Vorgeschichte „Der kleine Hobbit“ gehört, das Buch aber nie gelesen. Wahrscheinlich, weil das Cover nach Kinderbuch aussah und ich meinte, aus diesem Alter wäre ich nun wirklich heraus. Dann aber entdeckte ich die Ankündigung für ein sechsstündiges Hörspiel, das der WDR basierend auf dem „Hobbit“ produziert hatte. Gesendet wurde es an Weihnachten, und ich lag mit dem Kassettenrecorder auf der Lauer, um ja keine Minuten zu verpassen.
Fortan sah ich Hörspiele in einem anderen Licht: Sie konnten so viel mehr sein als holprig eingedampfte Versionen berühmter Klassiker. Sie konnten eine ganze Welt erschaffen – in diesem Fall Tolkiens Mittelerde, und zwar so räumlich, so greifbar, so faszinierend, dass mir bis heute der „Hobbit“ zum Hören lieber ist als die gedruckte Vorlage und ich jeden Satz mitsprechen kann.
Und nun also „Der Brennende Schatten“, eine Geschichte, die es nur als Hörspiel gibt, nicht als Roman. Es gibt dennoch drei Parallelen zu Tolkiens „Hobbit“. Erstens: Es handelt sich um die Vorgeschichte zu einer Fantasy-Trilogie, meinen Büchern um das Waisenmädchen Merle und die Fließende Königin. Zweitens: Produziert wurde das Hörspiel mit erheblichem Aufwand vom WDR, in denselben Studios, in denen ein Vierteljahrhundert zuvor die Reise Bilbos zum Einsamen Berg stattgefunden hatte. Und drittens: „Der Brennende Schatten“ wurde erstmals an den Weihnachtstagen 2005 gesendet, und ich weiß von Zwölfjährigen, die gespannt vorm Radio (oder, via Livestream, am Computer) gesessen haben, um keine Minute zu verpassen.
Das alles macht mich ungefähr so stolz wie vor vielen Jahren das Erscheinen meines allerersten Buches. Das hat ein wenig mit Nostalgie zu tun, aber auch mit einem großen Respekt vor dem Medium Hörspiel und jenen, die aus Geräuschen und Stimmen Welten erschaffen - diesmal eben Merles Welt, und irgendwie auch meine. Ich wusste nicht, was ich zu erwarten hatte, als ich das Manuskript beim Sender abgab. Mir war sogar ein wenig mulmig. Ich hatte keinen Einfluss auf die Besetzung oder die Inszenierung. Ich fürchtete, die Stimmen könnten nicht zu denen passen, die ich beim Schreiben im Ohr gehabt hatte. Oder, schlimmer noch, es könnten Widersprüche zu den Romanen entstehen.
Als mich der Regisseur Jörg Schlüter kurz vor Weihnachten einlud, im Studio das fertige Hörspiel anzuhören, freute ich mich darauf wie ein Kind. Und war zugleich ungeheuer nervös. Im Manuskript gab es gleich auf der ersten Seite den „Chor der Meerjungfrauen“, von dem ich nicht wusste, wie er umgesetzt werden würde. Es gab die Meerhexe, die leicht zu einer Karikatur hätte werden können. Es gab die tragische Szene von Unkes Ankunft in Venedig, die als emotionaler Anker der ganzen Geschichte unbedingt funktionieren musste. Und es gab, als Damoklesschwert über der ganzen Produktion, die Vorgabe des Senders, das Hörspiel dürfe nicht zu intensiv oder gar erschreckend für neunjährige Kinder sein. (Was wohl vor allem bedeutet: nicht zu intensiv für die Eltern der neunjährigen Kinder.)
Nun saß ich also mucksmäuschenstill am Mischpult, der Tonmeister drückte auf Start. Und ich war augenblicklich in der Tiefsee, in einem wirbelnden Schwarm aus Meerjungfrauen, gebannt von der Bedrohlichkeit der Meerhexe. Bei Unkes Begegnung mit den Venezianern habe ich heftig geschluckt (aber so weit ich weiß, haben keine Neunjährigen davon Schaden genommen). Und es gab keine Stimme, die nicht dem Charakter entsprach, den ich mir ausgedacht hatte. Ich war wieder zwölf, es war Weihnachtszeit, und alles war so, wie es sein musste. Noch besser, sogar.
Noch eine Anmerkung zum Inhalt: Die Romane der Merle-Trilogie spielen über sechzig Jahre nach den Geschehnissen um den „Brennenden Schatten“. Arcimboldo ist in den Büchern ein alter Mann und Unke lebt noch immer an seiner Seite. Man muss die Trilogie nicht kennen, um das Hörspiel zu verstehen. Aber für all jene, die das Venedig der Meerjungfrauen und lebenden Steinlöwen bereits besucht haben, bietet „Der Brennende Schatten“ einen Schlüssel zu vielen späteren Ereignissen. Wie kam es zu der Feindschaft zwischen Arcimboldo und Umberto? Was hat es mit den Subozeanischen Reichen auf sich, die in den Romanen nur beiläufig erwähnt werden? Woher stammt das Unterseeboot, in das es Unke und Serafin im dritten Band verschlägt? Welche Verbindung besteht zwischen Sphinxen und Horuspriestern? Und, vor allem, wie stieß das Ägyptische Imperium auf die Macht der Sonnenmagie, mit der es später einen beispiellosen Vernichtungsfeldzug gegen den Rest der Welt führen würde? Antworten darauf finden sich nicht in den Büchern, nur in diesem Hörspiel.
In diesem Sinne, ganz egal, zu welcher Jahreszeit: Frohe Weihnachten!