25. November 2008
Die erste Station auf meiner einwöchigen DSCHINNLAND-Tour war gestern Abend eine vollgepackte Hugendubel-Buchhandlung in Erfurt. Ich mag die meisten ostdeutschen Städte lieber als die im Westen, und Erfurt ist dafür das perfekte Beispiel. Eine wunderschöne Altstadt, toll restauriert, dabei aber nicht aller Identität beraubt wie einige der süddeutschen Altstädte, die zum Teil aussehen wie die Hollywood-Version des romantischen Deutschland.
Heute morgen hatte ich den ganzen Vormittag, um mir die Stadt anzusehen. Ich bin die vereisten Stufen zum Dom hinaufgestiegen (um kurz nach acht war hier noch alles geschlossen), dann weiter zur Festung Petersberg. Eine gute halbe Stunde bin ich - mit Dead Can Dance via iPod - auf den menschenleeren Wehrgängen herumgeschlittert und habe mir lange die verschneite Stadt von oben angesehen. Und dabei ist mir eingefallen, dass ich auf die Frage, wie ich denn zum historischen Roman gekommen sei, jahrelang etwas Falsches geantwortet habe – weil ich es tatsächlich nicht mehr besser wusste. Die Wahrheit ist: Es hatte viel mit der Umgebung während meiner Jahre in Halle zu tun. Dort sind alle meine Bücher bis einschließlich DIE WINTERPRINZESSIN entstanden. Vor allem DIE GEISTERSEHER, die beiden ersten FAUSTUS-Romane und DER SCHATTENESSER verdanken viel den alten Straßenzügen in Halle, Weimar und Jena, unseren häufigen Ausflügen in den Ostharz, den Fahrten ins Elbsandsteingebirge, ins Unstrut-Tal und durch Thüringen. Ich habe oft gesagt, ich hätte mit den historischen Romane begonnen, weil Anfang/Mitte der Neunziger niemand deutsche Phantastik veröffentlichen wollte; Tatsache ist aber – und das ist mir heute morgen auf den Mauern der Festung wieder klar geworden -, dass deshalb zwar die phantastischen Elemente in den Büchern entstanden sind, nicht aber die Bücher selbst. Alle Romane, die ich in Halle geschrieben habe, haben etwas sehr „ostdeutsches“ – und das meine ich im denkbar positiven Sinne. Die großartige alte Architektur, der morbide Charme der Städte (heute oftmals wegrenoviert), die Allgegenwart romantischen und spätmittelalterlichen Kulturguts, die beeindruckenden Landschaften – all das ist in den Büchern präsent. Ich bin ziemlich sicher, dass keines davon anderswo in dieser Form entstanden wäre. DIE WINTERPRINZESSIN (in Halle begonnen, im Rheinland beendet) hat durch das Karlsruhe-Setting schon ein anderes Flair, DAS GELÜBDE war ein Nachzügler, der zum Teil noch auf Recherchen für DIE GEISTERSEHER basierte. Sollte ich wirklich irgendwann einmal einen dritten Brüder-Grimm-Roman in Angriff nehmen, müsste er wieder zwischen Weimar, Leipzig und Dresden spielen – und dort wohl auch geschrieben werden.
In Erfurt stand ich außerdem neidisch vor dem Puppentheater (Notiz: Wieder mal Jan-Svankmajer-Filme gucken!), bin staunend ein paar Mal die Krämerbrücke auf und ab gelaufen (Unbedingt mehr darüber lesen!), habe mir von einem freundlichen Denkmalschützer eines der Brückenhäuser erklären lassen und bin schließlich in einer winzigen Kinderbuchhandlung gelandet (gerade zur besten Deutschlands prämiert). Jetzt, eine Stunde später, sitze ich im Zug nach Halle, rechts und links schaukelt Thüringens Schneelandschaft vorüber, und ich hätte fürchterliche Lust, mal wieder über die Grimms, den alten Goethe oder Doktor Faustus zu schreiben.