26. November 2008
Die Nostalgie-Tour geht weiter. Gestern also Halle an der Saale, wo ich meine ersten acht Bücher geschrieben habe. Die Buchhandlung hat mich im Hotel Rotes Ross untergebracht. Vor gut 16 Jahren, damals noch als Volontär beim „Express“, habe ich dort im Foyer mit einem unserer Fotografen einem Manager aufgelauert, der die Hallesche „Konsum“-Gesellschaft in den Konkurs geführt hat – und sich von seinem Verdienst eine Villa auf Sylt leistete. Schönes Zimmer, aber wie in allen besseren Hotels ist die Gebühr fürs Internet eine Unverschämtheit.
Vor der Lesung bin ich vier oder fünf Stunden lang durch die Stadt gelaufen. Rund um die Moritzburg zu meiner ersten Wohnung in Halle; das Haus steht seit `93 leer, unsere WG war der letzte Mieter. Der opulente Stuck an der Außenseite bröckelte schon damals, jetzt ist das ganze riesige Gebäude eine Ruine. Die Fenster meines Zimmers sind zerbrochen, alle Öffnungen im Erdgeschoss zugemauert. Netze an der Fassade sollen verhindern, dass herabfallende Steine irgendwen erschlagen. Das Haus muss früher einmal ein ziemlicher Prachtbau gewesen sein, ich erinnere mich gut an die riesigen Wohnungen mit hohen Decken, die schon damals zum größten Teil verlassen waren. Im Dach klafften quadratmetergroße Löcher, es regnete unablässig in die oberen Stockwerke. In der Wohnung über uns hauste eine Familie ohne Heizung. In der Nachbarwohnung verbrannte jemand Stück für Stück die Streben des wunderschönen alten Treppenhausgeländers im Ofen. Zeitweise liefen bei ihm so viele Videorekorder gleichzeitig – was auch immer er da kopiert haben mag -, dass im ganzen Haus der Strom ausfiel. Zuletzt war ich froh, dort auszuziehen; ich hatte mittlerweile Steffi kennengelernt und nahm mit ihr und Alex eine frisch renovierte Altbauwohnung in der Südstraße. In der WG habe ich DER KREUZWORTRÄTSELMÖRDER und SCHWEIGENETZ geschrieben, in dem der Held unter ganz ähnlichen Bedingungen haust; fast alles, wovon dort die Rede ist, war authentisches Umfeld beim Schreiben.
Nur ein paar Schritte entfernt liegt auch heute noch der „Kaffeeschuppen“, eine stadtbekannte Studentenkneipe, in die mich meine neuen Kollegen gleich am ersten Tag mitnahmen und wo ich, nach ein paar Stunden argen Zweifelns, entschied, tatsächlich in Halle zu bleiben. Heute sieht dort noch alles so aus wie Anfang der Neunziger, es ist nur ein wenig aufgeräumter und sauberer. Aber rundherum liegen jetzt zahllose weitere Bars und Cafés, die damals alle noch nicht existierten. Das war die Zeit, als Nirvana in Halle vor ein paar hundert Leuten spielten, wenige Wochen vor dem Durchbruch mit „Smells Like Teen Spirit“.
Zum Abschluss verschlug´s mich schließlich in die Galerie des Künstler Penz in der Mittelstraße. In einem der schönsten alten Häuser der Stadt lebt und arbeitet er dort mit seiner Lebensgefährtin und dreizehn Katzen. Meine ersten Bilder von ihm habe ich mir schon vor fünfzehn Jahren gekauft und habe mich nie an ihnen satt gesehen; nach dem Umzug im letzten Dezember waren sie die ersten, die wieder an den Wänden hingen. Gestern habe ich gleich mein komplettes Lesungshonorar in weitere seiner Radierungen umgesetzt – halb zerfallenen Häuser, geborstene Fensterscheiben, enge, alte Straßenzüge in tiefschwarzem Schatten. Bezahlen muss man dort noch immer in bar. Immerhin: Heute steht der nächste Geldautomat nur eine Straße weiter.